Wenn es eine Rangliste für Gastfreundschaft und Herzlichkeit gibt, dann sind BrasilianerInnen sicher ganz vorne dabei. Als ich vor einem Jahr am IMC Krems rund 70 BrasilianerInnen fotografisch begleiten durfte, war es nur eine Frage der Zeit, diese in ihrer Hauptstadt Brasilia zu besuchen.
Damals versprochen; ein Jahr später getan.
Der Umstieg am Flughafen in Sao Paulo verläuft bereits vielversprechend. Zwei Dinge, die sofort ins Auge stechen: Frauen und Frauen. Mit der Ankunft in Brasilia sind meine Glückshormone dann am Siedepunkt. Kein Wunder: 33 Grad Celsius, leichter Wind, Herzraserei. Abenteurerseele, was willst du mehr? EIn "welcome to Brasilia, my friend!", eine freundschaftliche Umarmung und ein herzliches Lächeln bestätigen mir endgültig, dass "diese" BrasilianerInnen einfach außergewöhnlich sind.
Nach einer körperlichen Refreshment Session bei Valdir, geht es schon zum ersten "Klassentreffen". Valdir, Fernanda, Patricia, Rogerio und Leonardo erwarten mich bereits in einem Lokal mit brasilianischer Live Musik. Zur Begrüßung gibt es, wie könnte es anders sein: Caipirinha! Die Begeisterung, dass wir uns alle miteinander nach einem Jahr wieder treffen, ist groß. Ebenso der Appetit. Unter dem Lärmpegel unserer Jahreszusammenfassungen und der Musik beginnt sich der Tisch zu biegen: Vorspeise Coxinha, dann Linguicada und Picanha. Dazu frischgepresste Säfte aus Früchten, die derart exotisch sind, dass sie es gar nicht bis nach Europa schaffen. Fantastisches Essen, tolle Atmosphäre!
Irgendwann, zwischen vier oder fünf Caipirinhas geht der erste Abend dann für mich zu Ende. "We have to get up early tomorrow, because we are goint to Pirenopolis", sind die letzten Worte, an die ich mich noch gut erinnern kann.
Schon um 7 Uhr weckt mich Valdir, um 08:30 Uhr stehen wir gekampelt und frisch gebügelt in Laylas Küche. "Have you ever had Tapioca?" Natürlich nicht, und genau deshalb gibt es zuerst einmal ein brasilianisches Frühstück. Tapioca ist eine Art Mehl, das in der Pfanne zu einer festen Form gedeiht. Diese weiße, palatschinkenartige Masse kann dann mit allen möglichen Füllungen gegessen werden. In unserem Fall sind es Käse und Ei. Dazu gibt es wieder herrliche, frisch gepresste Fruchtsäfte und Kaffee.
Gestärkt geht es mit dem Auto zwei Stunden lang nach Pirenopolis, einer Kleinstadt, die zum UNESCO Kulturerbe ernannt wurde. Die Strecke nach Pirenopolis führt entspannt, durch eine leicht hügelige Landschaft mit roter Erde. Irgendwann endet die asphaltierte Straße. Mit dem Suzuki ist es für Layla aber ein Leichtes, uns vier sicher in die Stadt zu bringen. Gemeinsam besuchen wir die Kirche, den Hauptplatz und pendeln ein wenig durch die engen Gassen. Mit ihren kleinen, farbenfrohen Fassaden der Souvenirshops, Restaurants und Galerien steht die Stadt im kräftigen Kontrast zum wolkenlosen, dunkelblauen Himmel. Die Sonne brennt erbarmungslos auf der Haut. Zeit sich abzukühlen.
Es sind nur wenige Minuten mit dem Auto zu den "Abade" Wasserfällen, die aufgrund der Nähe zu Brasilia, ein beliebtes Ausflugsziel für Städter sind. Trotz der kühlen Wassertemperatur gibt es kein Zögern für uns - wir wandern von einem Wasserfall zum anderen, dazwischen wird gebadet und der Körper aktiv gekühlt. Auf dem Rücken, im Wasser treibend, gibt es nur einen Gedanken! Welcome to the jungle!
Wer sich dermaßen anstrengt, muss natürlich auch etwas zu sich nehmen. "Let´s go and eat some typical brasilian food." Und so sitzen wir dann wieder bei excellentem Essen, diesmal zu viert, in einem kleinen Restaurant. Cozumel, ein Getränk aus Bier, mit Eiswürfeln und einem Salzrand; Picanha, Panelinha, Tutu, dazu frischer Salat mit Früchten (ja, Früchte - Mango zum Beispiel) und brasilanisches Bier - Colombina. Die anbrechende Nacht verbringen wir in einer Pousada, einem kleinen Privatquartier inklusive Frühstück, am Rand der Stadt.
Tag 3 Pirenopolis, Capoera: nach einem sensationellen Frühstück mit selbstgebackenem Süß- und Salzgebäck, Kaffee und frischgepressten Fruchtsäften machen wir nochmals einen Abstecher in die Stadt. Auf dem Haupt- bzw. Marktplatz findet gerade Capoera statt. Drei Musiker, ein ca. 55 jähriger Tänzer und ein junger Bub schwitzen in der Hitze. Die Performance ist sensationell. Die Stimmung wird durch die herumstehenden Zuschauer angeheizt. Der, von den Sklaven erfundene "Tanz" ist sensationell anzuschauen.
Nach einer weiteren kleinen Tour durch die Stadt und einem weiteren exzellenten Mittagessen geht es wieder nach Hause. Auf dem Weg nach Brasilia öffnet der Himmel seine Tore und lässt es ordentlich krachen. Ein Gewitter mit allem Zubehör verlängert unsere Heimfahrt ein wenig. Rund 30 Kilometer vor Brasilia ist der Himmel aber wieder blau. Ungefähr so, wie unser Zustand auf Valdirs Terrasse, wo wir uns bis in die Nacht hinein, bei hausgemachten Caipirinhas, selbst feiern.
Bevor es zum Sightseeing in die Hauptstadt Brasilia geht, bin ich bei Layla´s Familie zum Essen eingeladen. "Let´s have lunch with my familiy", lautet das Angebot. Ganz einfach, völlig normal.
Die Wohngegend ist typisch für den brasilianischen "oberen" Mittelstand. Obwohl es sich bei dem Wohnviertel, um eine "gute" Nachbarschaft handelt, ist jeder kleinste Shop, jedes Wohnhaus, jeder Garten, jede Terrasse, jede Garage schwerstens abgesichert. Entweder durch einen Stacheldraht, Stahlgitter oder Mauern. Videokameras gehören zur Grundausstattung. Auf dem Weg in die Küche passieren wir, im Haus, insgesamt drei massive Stahlgittertüren, die immer auf und zugesperrt werden möchten.
Wie üblich werde ich von allen Familienmitgliedern mit einer herzlichen Umarmung, und einem Kuss auf die Wange, empfangen. Wir sitzen zu sechst am Mittagstisch, der bereits gedeckt ist: frisch gepresster Mangosaft, gemischter Blattsalat und Arroz Carreteiro - eine Art Risotto mit Trockenfleisch, Zwiebel, Koblauch und Koriander. Schmackheftig! Als Dessert gibt es Eiscreme und meine mitgebrachten Manner-Schnitten bzw. Milka Schokolade. "We love Austrian chocolate!", schwärmt die Mutter und Köchin des Hauses. Angeblich sei die europäische Schokolade viel süßer, also fetter, als die brasilianische. Who knows?
Beim abschließenden Kaffee diskutieren wir über die politische und wirtschaftliche Situation Brasiliens. Jeder bringt sich dazu ein, jeder einzelne ist im Moment unzufrieden. Die Inflation steigt, die Korruption hat einen Höhepunkt erreicht, die brasilianische Währung massiv abgebaut. Derzeit läuft ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin, die zum zweiten mal ins Amt gewählt wurde. Zwischenzeitliche Empörung und Unverständnis münden am Ende in der Hoffnung : "Hopefully it will be better, in one year or so. At this time itˋs not good for us. This government needs to be changed."
Danach fahren wir zum ausgemachten Treffpunkt unserer Sightseeing-Tour: der Cathedral Metropolitana. Brasilia ist nach Salvador und Rio de Janeiro die dritte Hauptstadt in der Geschichte Brasiliens. Zu dritt, mit Juliana, geht es zuerst in das lichtdurchflutete Gotteshaus, die Cathedral Metropolitana. Dann zur besten Aussichtsplattform der Stadt, dem TV-Tower. "You can get a great view of the city and see, what Oscar Niemeyer was planning."
Von der Aussichtsplattform des 224 Meter hohen Turms, in 75m Höhe ist das "Flugzeug" klar zu erkennen. Gemeinsam mit seinem Assistenten Lucio Costa hat der Architekt, Oscar Niemeyer, unter dem damaligen Präsidenten Juscelino Kubitschek die Stadt in nur 1000 Tagen aus dem Boden gestampft. Das schöpferische "Meisterwerk" hat die Form eines Flugzeuges. Die Stadt liegt auf 1000m Seehöhe, die Sonne brennt erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel, vor allem in der Trockeperiode (Juli, August) hinterlässt die Hitze auch gesundheitliche Schäden. Um so verwunderlicher für mich, dass Brasilia zum Großteil aus Asphalt und Beton besteht. Auf der Hauptachse des Flugzeugs, also dem Rumpf der Maschine liegen die Ministerien, am vorderen Spitz, also am Cockpit steht der Kongress. Die Tragflächen bestehen aus den Wohnvierteln, Shops, Hotels, Vergnügungsbereichen,... diese Unterteilungen der einzelnenen Bereiche heißen ganz simpel: Sektoren.
"It looks very futuristic, but it also seems a little bit crazy to me", ist das erste, was mir mir beim Blick auf diese weitläufige Stadt unter uns einfällt. "You are not the only one, who thinks that way."
Die Architektur erinnert mich an einen Science Fiction Film. Die grellweißen Betonbauten sind riesig. Sie machen die Stadt gleichzeitig zu einem äußerst seltsamen Ort, in dem der Mensch als Individuum völlig untergeht. Passend dazu stelle ich mir kleine, grüne, außerirdische Männchen vor, die mit ihren Flugobjekten auf den weiltäufigen Betonplätzen starten und landen.
Platzmangel war bei der Reissbrettplanung offensichtlich kein Thema. Selbst Autos wirken winzig, Fahrzeuge verlieren sich auf den endlosen "Highways".
Relativ schnell, aufgrund der hohen Temperaturen, marschieren wir nach dem TV-Tower durch die innerstädtische Betonwüste. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten: Estadio Nacional Mane Garrincha (Fußballstadion), Palacio Itamaraty (Außenministerium), Museo Nacional da Republica, Palacio da Justica, Congresso National, Senado Federal, Camara dos Deputados, Praca dos Tres Poderes - Palacio da Alvorada (Präsidentenpalast).
Zum Schluss trödeln wir durch den Parque da Cidade, dem größten Freizeitareal im Zentrum der Stadt. Hier wird trainiert, flaniert, entspannt. Bei frischem, eisgekühltem Kokusnusssaft lassen wir die Geschichte dieser außergewöhnlichen Stadt Revue passieren. Mein Eindruck von der Hauptstadt: mächtig, futuristisch, seltsam - fast ein wenig menschenfeindlich. Etwas muss, bei all dem Beton jedoch besonders hervorgehoben werden. Die Hauptstadt wurde rund um einen riesigen, künstlich angelegten See erbaut. Der See ist von allen Seiten aus zugänglich. Ein großartiges Erholungsgebiet zum Surfen, Jetski fahren, Segeln, schwimmen, fischen,... mitten in der Stadt. Die großzügig angelegten Wohngebiete und Straßen sind zwar unfassbar weitläufig, dafür prägen zahllose Bäumen, Sträucher und natürliche Grünflächen das Stadtbild. Nur im Zentrum stehen echte Hochhäuser. Der Rest der Stadt ist flach. Der Blick reicht über mehrere Kilometer weit, bis zum Horizont. Auch dafür ist Brasilia bekannt. Die Distanzen sind extrem weit, ohne Auto geht hier wirklich gar nichts.
Im Jahr 1987 wurde Brasilia von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhoben. Damit wurde die Schöpfung Oscar Niemeyers, im wahrsten Sinne des Wortes, für die Ewigkeit einbetoniert.
Zwei weitere male bin ich bei unterschiedlichen Familien zum Abendessen eingeladen.
Klar habe ich schon von den Favelas in Brasilien gehört. Klar bin ich durch "Bad neighbourhoods" in den USA und durch "Ghettos" in Asien und Mittelamerika gegangen. Aber brasilianische Favelas hautnah zu erleben war trotz aller Erfahrungen ein Schock für mich.
"Let me show you the other side of Brazil", nennt es Emilio beim Wort. "Of course this is a huge problem, that we have here in our country. But we really want to solve it. It will take a long time."
Wir steigen zu viert in den Polizeiwagen. Emilio, zwei seiner Kollegen von der brasilianischen Polizei-Spezialeinheit BOPE, und ich. Beim Einsteigen fallen mir sofort die Waffen auf, die jeder von ihnen trägt. Ich habe keine Ahnung, um welche Marke bzw. welches Modell es sich handelt. Waffen kenne ich nur aus Filmen. Außerdem ist es das erste mal in meinem Leben, dass ich mit schwerbewaffneten Polzisten in einem Auto sitze. Die drei schieben ihre Knarren zwischen Sitzbank und Oberschenkel. Die kkugelsicheren Westen dürfen wir glücklicherweise beim Stützpunkt lassen. Ich setze ein Stoßgebet ab, dass uns nichts passiert.
Dann fahren wir los - in die Favelas. Gestern hat es stark geregnet, heute ist es wolkenlos bei 33 Grad. Als wir das normale Wohngebiet am Rande der Stadt verlassen, ist das soziale Desaster bereits zu erahnen. Müllberge türmen sich am Rand der Straße, sofern man das als Straße bezeichnen kann. Asphaltiert ist hier nichts. Wir bewegen uns auf roter Erde. Überall stehen tiefe Wasserpfützen, der Dreck ist völlig aufgeweicht. Die Räder unseres Vans knallen immer wieder in die Wasserlöcher. Der Gatsch klatscht in hohem Bogen auf die herumstehenden Autowracks, Bäume, Sträucher. Auf einem Dreckhaufen aus Plastik, Papier, Holz und Lebensmitteln stehen zwei abgemagerte, weiße Pferde. Sie wühlen sich mit ihrem Maul durch den Abfall. Beide Tiere sind bis zur Mähne rot eingefärbt. Ein paar Hunde und Katzen streunen, ebenfalls auf der Suche nach Nahrung, durch die Gegend. Es stinkt erbärmlich.
Wir fahren im Schrittempo eine endlos scheinende Wand aus Holz entlang, biegen dann ab. Jetzt stehen zwei lange"Mauern" aus Holzplatten, rechts und links, von uns. Ein Einbahnschild erübrigt sich hier. Zurückfahren geht nicht. Der Polizeiwagen kommt mit eingeklappten Spiegeln gerade noch durch. Zunächst denke ich, dass es sich um eine Absperrung handelt und dahinter die Favelas stehen. Als wir jedoch eine dieser Wände touchieren, weil sie plötzlich geöffnet wird, wird mir alles klar. Das ist keine Absperrung, sondern die "Außenmauer" der Behausungen.
Was ich dann zu sehen bekomme, ist des 21. Jahrhunderts und einem Staat wie Brasilien nicht würdig. Diese Zustände in Worte zu fassen, ist so gut wie unmöglich. Meine Wortwahl in diesem Text ist zum Scheitern verurteilt. Wenn es die Sprachlosigkeit gibt, dann muss das hier die Wortlosigkeit sein.
Ich sitze schockiert am Rücksitz. Erst nach genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass ungefähr alle zwei Meter ein Eingang zu einer "Wohneinheit" ist. An beiden Seiten der Gasse. Auf dem gesamten Areal stehen ca. 1500 dieser Holzbaracken, die direkt aneinander grenzen. Zusammen genagelt, angelehnt, verschraubt. Vereinzelt, aber nicht überall, gibt es Strom, der angeblich heimlich von irgendwo abgezweigt wird. Eine Kanalisation oder sauberes, fließendes Wasser gibt es nicht. Plastikcontainer werden zur Dusche umfunktioniert, das verbrauchte Wasser versickert einfach im Boden. Vereinzelt stehen größere Wassertanks auf einem Gerüst, auf den Holzdächern.
Durch die offenen Eingangstüren sehe ich in die "Wohnungen". Sie bestehen aus ein bis zwei Räumen, sind klein, eng. An den Eingangstüren hängen dicke Stahlketten mit Vorhangschlössern. Auf jeder Tür steht eine, mit der Hand geschriebene, Nummer. Drinnen stehen, sitzen, liegen Kinder und Erwachsene. Auf Stühlen und Bänken aus Holz oder Plastik, auf Plastikplanen oder schlicht und einfach auf dem roten, nassen Sandboden. Der Regen hat seinen Weg auch in die "Innenhöfe" gefunden. Dementsprechend schaut das Mobiliar aus. Abgesehen vom Notwendigsten haben die Leute hier nichts. Hin und wieder ist ein Gasherd, eine Hängematte, ein Schlafsack, ein Kühlschrank, eine Kühlbox aus Styropor zu erkennen.
Kleinkinder laufen nackt und barfuß auf unser Auto zu. Sie lachen. Sie sind dreckiger als die beiden Pferde zusammen.
"Do you want to talk to someone here or take a picture? We can stop if you want to?", fragt mich Emilio.
Das Angebot ist gut gemeint, ich lehne ab. "No thank you, it´s fine." Was für ein Widerspruch! Mehr bringe ich nicht heraus, aus mir. Was soll man Menschen fragen, die im Dreck, abseits der Gesellschaft leben? Wie reizvoll kann es sein, ein Foto davon zu machen, und es noch dazu herzuzeigen? No thanks.
"This is a shame for a country and a government. It is very, very depressing", lautet mein Fazit. Eine halbe Stunde lang torkelt das Fahrzeug im Schrittempo durch die Favelas. Irgendwann kommen wir zu den "besseren" Baracken, die aus Betonziegeln gebaut sind.
"You see this? We are trying to improve the situation of the people here. One day, everybody here should at least have a house like this. We are working hard, but it´s not easy to change. As soon as we are building brickhouses on one side, they are builiding wooden houses on the other side."
Emilio erzählt mir vom "everyday-life" in den Favelas. Manche Bewohner gehen in die Stadt um zu arbeiten, am Abend kehren sie hierher zurück. Die Menschen, die hier wohnen zahlen keinen Strom, keine Miete, keine Gebühren für die Kanalisation, die Müllentsorgung oder sonstige Steuern. Favelas sind illegal gebaute Wohnsiedlungen, die von einem kriminellen Kern kontrolliert werden. Diese finanzieren sich durch Drogenhandel und missbrauchen die lokale Bevölkerung zu ihrer Unterstützung.
"It is a world within itself and a system within our system. It is very interesting, to see how well they are organized. But we do have a big problem with it", schließt Emilio unsere Guided Tour, als wir zum Stützpunkt zurück kehren. Obwohl ich zutiefst schockiert bin, bin ich dankbar dafür, dass ich diese dunkle Seite Brasiliens sehen durfte. Die Bilder, die ich aus den Medien kannte, sind "Kindergeburtstag."
Am 24. Dezember 2015 komme ich zu Mittag in Rio de Janeiro, am Santos Dumont Airport, an. Schon der Landeanflug ist einzigartig. Das Flugzeug kurvt im Sinkflug stark nach links, fliegt zwischen den glatten Steinformationen, vorbei an der Christusstatue und den saftigen, grünen Wäldern hinunter zu einer der kürzesten Landepisten des Landes. "This is a challenge for every pilot", hat mir Leonardo prophezeit.
Wir landen sicher. Meine Sitznachbarin, eine Brasilianerin mit Modelltauglichkeit, hat mir während unseres Fluges von Brasilia nach Rio zwei Stunden lang eingetrichtert, wie gefährlich es in Rio sei. Sie ist nicht die Einzige. Viele Brasilianer, mit denen ich mich vor meiner Ankunft unterhalten haben, haben mir den Eindruck vermittelt, dass hinter jedem Baum dieser Großstadt ein Krimineller steht. Nur darauf wartet, einen "Gringo" zu überfallen und ihn bis auf die Unterhose auszurauben. Meine "Flugbegleiterin" ist derart besorgt, dass sie noch vom Flugzeug aus, ihre Eltern anruft und sie darum bittet, mich mit dem Auto bis zum Hostel zu bringen. Was für eine Gastfreundschaft, was für ein Glück!
Wir marschieren mit unserem Gepäck aus dem Flughafengebäude. Die Eltern begrüßen mich so, als würde ich zur Familie gehören. Kuss auf die Wange, herzliche Umarmung. Dann bringen sie mich direkt vor die Tür des Cafe Rio Hostels. Wahnsinn!
Nach dem Einchecken hole ich mir ein paar Tipps vom Chef des Hauses. Heute ist heiliger Abend! Kann es etwas Schöneres geben, als am 24. Dezember unter der Christus-Statue zu stehen und auf Rio de Janeiro zu blicken? Rund eineinhalb Stunden später bin ich oben. Mit der Schrägbahn, Preis: 68 Reais, ungefähr 18 Euro. Der Ausblick ist gewaltig! Die beeindruckendste Stadt der Welt hält, was sie verspricht. Von hier oben spielt sie ihre Stärken eindrucksvoll aus. Saftige, grüne Wälder, riesige, glatte "Steinformationen", endlos weiße Strände, türkisblaues Meer, strahlender Sonnenschein, dunkelblauer Himmel. Aber auch Favelas sind zu erkennen. Diese liegen in den oberen Bereichen, an den Hügeln der Stadt. Es gibt einen brasilianischen Spruch, der sinngemäß bedeutet: "Die Reichen können sich die schönsten Häuser in der Stadt und am Strand kaufen. Das größte Glück der Welt, den Blick über die Stadt, aber haben die ärmsten der Gesellschaft - aus den Favelas von Rio de Janeiro."
Rechtzeitig zum Abendessen mit drei Engländern, einem Argentinier und einem Brasilianer bin ich wieder im Hostel. Wir kochen vier Stunden lang, fast bis Mitternacht. Es gibt Turkey mit Gravy, Reis, Salat, Kartoffelpürre und Gemüse. Danach einen britischen Spongecake und Manner-Schnitten. Sensationell!
Die vielen Horrorgeschichten, die mir im Vorfeld über die Stadt erzählt wurden, sind, wenn man halbwegs "normal" auftritt, absolut vermeidbar. Kein Schmuck, keine sichtbare Kamera, keine ständigen Selfies mit dem Smartphone, das Cash oder die Kreditkarte nur wenn notwendig auspacken.
Ich versuche mich immer an die lokale Bevölkerung anzupassen. In Rio de Janeiro sind es ein T-Shirt, Shorts, Flip-Flops. Ein "Kanga" (Badetuch) für den Strand, kein Handtuch, keine Ray Ban-Sonnenbrille. Und: sehr empfehlenswert, ein Plastiksackerl mit einem kleinen Einkauf, eine Flasche Wasser in meinem Fall. Damit wird man hier zum "Carioca", einem Einheimischen in der aufregendsten Stadt der Welt. Etwas Bargeld, maximal 100 Reais (25 Euro), habe ich meistens dabei. Meine Kreditkarte nehme ich nur mit, wenn ich den Weg zum Zielort ganz genau kenne. Meine Pocketkamera, in der Seitentasche meiner Shorts zücke ich nur, wenn ich sicher bin, dass keine seltsamen Gestalten um mich herum stehen, oder mich beobachten. Seitengassen, die wenig oder gar nicht bevölkert sind, vermeide ich. Sobald es wirklich brenzlig wird, steuere ich Polizisten, Shops, Bushaltestellen oder sonstige Menschenansammlungen an. Während meiner fünf Tage in Rio hatte ich kein einziges mal ein Problem.
Selbst wenn es zu einem Überfall kommen würde, gilt es die einfachen Regeln zu beachten. Die Überlebensformel meines Hostel-Chefs lautet: "Don´t try to be a hero. Act slow, don´t give the thief a reason to get nervous. Give him everything that you have and stay calm. Just let him go." Dazu ist es während meines Aufenthalts aber nicht gekommen.
Fünf Tage lang wandere ich zu Fuß durch die Stadt. Ich bin ein klassischer "walking"-Tourist. Ich liebe diese Art und Weise eine Stadt zu erleben. Wenn die Distanzen zwischen den Sehenswürdigkeiten von vornherein zu groß sind, nehme ich den lokalen Bus. Das öffentliche Verkehrsnetz in Rio ist sehr gut. Es gelingt mir alle Stadtteile zu Fuß oder mit dem Bus zu erreichen. Nur aus Interesse steige ich viermal in die Metro.
Nach dem ersten Tag am Corcovado und dem sensationellen Weihnachtsessen mit meinen Hostel-Companheiros starte ich am zweiten Tag an die Strände der Copacabana, Ipanema, Leblon und Leme. Für die Tour brauche ich den ganzen Tag. Insgesamt sind es ca. 20 Kilometer, die ich rauf und runter, in der brühtenden Sonne zurück lege. Dazwischen bade ich zur Abkühlung im Meer, trinke Kokossaft, esse Acai, inhaliere das Lebensgefühl, Bier und Caipirinhas. Die Strände sind am 25. Dezember prall voll. Auf engstem Raum liegen die Cariocas (in Rio geborene Menschen). Es wird gefeiert, getrunken, gespielt, Sonne getankt, gebadet. Beachlife, wie aus aus einem brasilianischen Märchen!
Trotz der schweißtreibenden Temperaturen wird am "Boulevard" (ein breiter, gepflasterter Weg zwischen der Straße und dem Strand) und auf der, wegen des Feiertags gesperrten Straße, Sport betrieben. Walker, Läufer, Radfahrer, Skateboarder, Longboarder, Rollerskater - alle schwitzen bei angezeigten 35 Grad. In regelmäßigen Abständen stehen Fitnesszonen für Klimmzüge, Situps,... gratis zur Verfügung. Daraus reslutieren sichtlich perfekte, stählerne Körper! Nach acht Stunden bin ich gerädert. Zeit für einen Schlummerdrink im Hostel.
Am nächsten Morgen schließe ich mich einer "Free Walking"-Tour durch das "centro historico & Lapa" an. Die, auf Trinkgeld basierenden Touren, sind absolut empfehlenswert. Die sensationellste Nachricht des Tages: das Gelb in der brasilianischen Flagge steht für Österreich! Als uns der Tourguide diese Information vermittelt, applaudiere ich begeistert. Wer kennt schon diesen Teil unserer österreichischen Geschichte? Nach rund dreieinhalb Stunden ist die Tour zu Ende. Zum Abschluss geht es zum Mittagessen. Es gibt "Feijouda", ein Gericht, von dem mir meine Freunde aus Brasilia mehrmals vorgeschwärmt haben. Der Bohneneintopf besteht aus verschiedenen Fleischteilen und wurde ursprünglich von den Sklaven im Norden kreiert. Sie kochten diese Mahlzeit aus den Speiseresten - heute ist es ein brasilianisches Nationalgericht. Geschmacklich etwas fad und sehr schwer! Preis 30 Reais (ca. 8 Euro).
Als deklarierter Fußballfan muss man in Rio ins Maracanar Stadion. Es ist nur wenige Metrostationen entfernt, liegt direkt an der U-Bahnstation. In dem rund 80.000 fassenden, komplett renovierten Stadion spielen alle Top-Mannschaften aus Rio (Botafogu, Flamengo, Fulminese und Vasco da Gama). Es wurde für die WM 2014 renoviert. Top modern, ein absolutes Highlight! Geführte Tour um 40 Reais (10 Euro).
Nach einer vorabendlichen Körperpflege im Hostel geht es wieder zurück nach Lapa, zum Pub-Crawl. Für 50 Reais (12 Euro) besuchen wir in einer 5-er Kleingruppe drei Bars und einen Club. In den Pubs ist jeweils ein Cocktail inklusive. Das ist nett, wir brauchen aber mehr. Zu meinem Glück sind die drei Briten undunser brasilianischer "Nachtportier" mit von der Partie. Aufgrund seiner "Masse" nennen wir ihn unseren "personal Security-Guide". Die Tour ist OK, allerdings etwas stressig. Kaum kommen wir mit den weiblichen "Locals" ins Gespräch, müssen wir auch schon wieder die Szenerie wechseln. Beim abschließenden Clubbesuch ist die Stimmung großartig, das Platzangebot aber beschränkt. Gegen 3 Uhr früh checken wir aus, nehmen ein Taxi zurück ins Hostel. Es gibt keine besonderen Vorkommnisse mehr an diesem Abend.
Tag drei verläuft etwas entspannter. Am Vormittag gebe ich mir nochmals den Blick über die Stadt, diesmal vom Zuckerhut aus (Preis für die Gondel: 71 Reais, ca. 18 Euro). Die Fahrt zum höchsten Punkt des "Pao de assucar" setzt sich aus zwei Fahrten zusammen. Zuerst mit einer Gondel zur Mittelstation, dann umsteigen und mit einer weiteren Gondel zum höchsten Punkt, dem zweiten Berg aus Stein. Theoretisch kann man bis zur Mittelstation, ohne Eintritt zu bezahlen, die Stufen hinauf steigen. Mir ist das aber nach unserer Lokaltour am Vortag zu mühsam. Beim Einsteigen gegen 10 Uhr Vormittag ist so gut wie nichts los. Ich marschiere beim rauf- und runterfahren bis in die Gondel, ohne Wartezeit.
Oben angekommen bin ich wieder erschlagen von der Schönheit Rios. Schon von der mittleren Plattform sieht man den gesamten Verlauf der Strände. Unzählige, kleine und große Inseln liegen vor der Bucht. Im Hafen, weit draußen warten riesige Frachtschiffe. Man sieht vom Zuckerhut fast noch besser, als vom Corcovado (Christusstatue), weil man direkt an der Küste steht. Ich nehme mir schon an der Mittelstation viel Zeit, trinke einen frisch gepressten Saft (11 Reais), hole mir ein Acai (14 Reais), dann noch einen Expresso (4 Reais). Die Preise sind trotz der Toplage nicht höher, als in der Stadt.
Nach ungefähr zwei Stunden gehe ich zu Fuß zurück in mein Hostel. Ich durchquere dabei die Stadtteile Flamengo, Botafogo und Laranjeiras. Mein Hostel liegt in letztgenanntem Stadtteil. Es ist ein typisches Wohnviertel, laut Cariocanern ein Ort, an dem sehr viele alte Leute wohnen. Vielleicht ist mir gerade deshalb nichts passiert während meinem Aufenthalt?
Meine Freunde aus Brasilia haben mir den Besuch einer Churrascheria nahe gelegt. Zufällig gehe in um die Mittagszeit gerade an einer vorbei. Das besondere an diesen Selbstbedienungsbuffets ist das Fleisch, das frisch am Spieß gegrillt wird. Man bedient sich zuerst am Hauptbuffet. Dann lässt man sich vom Koch das besonders zarte Fleisch runterschneiden. Bezahlt wird nach Gewicht des Tellers. Sehr empfehlenswert - trotz höchster Qualität sehr preiswert.
Am Nachmittag schließe ich mich wieder einer "free walking"-Tour an. Nochmals geht es für mich an die Strände der Copacabana und Ipanema. Nach unserem Helikopter-Erlebnis lassen wir den anbrechenden Abend im botanischen Garten ausklingen. Rund um eine Lagune lässt es sich herrlich entspannen. Im Hostel geht der Abend mit tiefsinnigen Gesprächen zur Lebensphilosophie der Brasilianer zwischen internationalen Backpackern zu Ende.
Letzter Tag: am Vormittag starten wir in einer Vierer-Gruppe zu einem Kunstmarkt in Ipanema. Nach dem Shoppen traditioneller Rio-Souvenirs fahre ich mit der Metro zur Largo de Marchado-Station. Ein letztes mal wandere ich die 4 Kilometer der Rue Laranjeiras zu meinem Hostel hinauf, in Richtung Corcovado (Christusstatue). Dabei verbschiede ich mich geistig von dieser einzigartigen Metropole. Rio de Janeiro sollte man gesehen haben! Gerade jetzt, wo die Preise für uns Europäer sehr günstig sind. Der Umrechnungskurs liegt im Moment bei 1:4 (1 Euro ist gleich 4 Reais), bei der WM 2014 war der Kurs noch 1:2,5.
Um 20 Uhr fahre ich mit dem Taxi zum Flughafen, weiter geht meine Reise, an die Küste Bahias, nach Arraial d´Ajuda.
Wir, die "Free Walker Tour"-Gruppe, kommen gerade von der Copacabana hinüber zum Ipanema Beach, als Panik unter den "Cariocas" ausbricht (so nennen sich die Menschen, die in Rio geboren wurden, also "Originale" sind). Eine Menschenmenge aus rund 300 Personen vom Meer, über den Strand bis hinauf zum Boulevard, jubelt und bewegt sich zügig den Strand entlang. Wir befinden uns mitten im Geschehen. Keiner weiß, was los ist. Wir geben uns der Hysterie hin. Und rennen. Hin und wieder erspähe ich, was am Strand unter uns passiert.
Ein Schwarzer mit lockigem Haar rennt im Zick Zack zwischen dem Wasser, den Sonnenschirmen und den Liegestühlen. Mit einer Hand hält er die Tasche, die er gestohlen hat. Mit der anderen Hand schlägt er immer wieder auf die Leute ein, die versuchen ihn zu stoppen. Einige Meter dahinter rund 15 Polizisten mit "leichtem Gerät", also Schlagstöcken. Der "Junge" ist schnell, tapfer, wagemütig. Der Mob kreischt, applaudiert, pfeift, tobt. Diese Szene ist plötzlich harmlos gegenüber dem, was im nächsten Moment passiert. In Höchstgeschwindigkeit braust vom nur 200 Meter entfernten Copacabana Fort ein blauer Militärhelikopter im Tiefflug über unsere Köpfe. Die Seitentüren sind auf beiden Seiten geöffnet.
Der Lärm der rotiierenden Rotorblätter lässt die brasilianische Strandidylle vergessen. Das eigene Wort ist nicht mehr zu verstehen, das Rauschen des Meeres nicht mehr zu hören. Die Assoziation zwischen dem Tiefblau des Himmels und dem Blau des Helikopters könnte unterschiedlicher nicht sein. Ein Polizist mit Kopfhörern steht auf den Kufen des Fluggeräts. Mit beiden Armen gestikuliert und lokalisiert er den Ort des Geschehens. Ein zweiter Militärpolizist sitzt an der offenen Seitentür. Er hat sein Maschinengewehr in Stellung gebracht, durch sein Zielfernrohr nimmt er den Strand ins Visier.
Ich habe so etwas noch nie gesehen. Fucking unbelievable!
Insgesamt zwei mal fliegt der Helikopter den Strand auf und ab, bis er schließlich über dem Ort des Geschehens in der Luft stehen bleibt. Die Szene ist surreal. Ein Dieb gegen den gesamten Mob, gegen rund 50 Polizisten. Und gegen eine Spezialeinheit im Helikopter.
Der Kleinkriminelle schlägt jetzt nur noch sehr langsam seine Haken im tiefen Sand. Er hat seinen Vorsprung gegenüber der Beach-Polizei verloren. Diese hat sich insgesamt mittlerweile fast verdreifacht. Am Boulevard, wo wir uns befinden, gehen jetzt auch die "richtigen" Jungs in Stellung. Es sind Spezialeinheiten mit schwerem Gerät, teilweise auf Pferden, ausgestattet mit Pistolen, Schlagstöcken, Pfefferspray, kugelsicheren Westen, Schutzschildern, Vollkörperschutz und Vollvisierhelmen.
Der Helikopter steht nur 20 Meter über dem Boden. Die Kraft der Rotorblätter wirbelt alles unter sich auf. Liegestühle, Sonnenschirme, Taschen, Handtücher, alles fliegt durch die Luft. Der Mob tobt sichtlich. Innerhalb weniger Sekunden ist die Treibjagd plötzlich zu Ende. Der Scharfschütze hat den Dieb ins Visier genommen. Die Polizisten am Boden kreisen ihn ein. Er ergibt sich und lässt sich vorerst wegtragen.
Kaum ist die Aufregung zu Ende geglaubt, bricht schon wieder Panik aus. Eine Kleingruppe von Cariocas, offensichtlich dem Dieb zugehörig legt sich mit den Polizisten an. Jetzt wird es richtig bunt. Jeder Sympathisant kriegt hier sein fett ab. Richtig fett. Schlagstöcke und Fäuste werden nachhaltig zum Einsatz gebracht. Wer hier wirklich zu wem hilft ist aus meiner Sicht nicht genau zu erkennen. Die Situation ist für ein paar Minuten lang, knapp davor zu eskalieren. Nochmals lokalisiert der Helikopter den Ort des Geschehens, wieder wird der Sand mächtig aufgewirbelt. Kurz darauf ist es tatsächlich vorbei. Rund zehn Sympathisanten werden sofort abgeführt, weggetragen, im Auto verstaut. Verhaftet.
Der blaue Helikopter dreht ab, fliegt hinaus auf´s Meer und setzt von dort aus, rund 150 Meter entfernt, seine ständige Patroullie zwischen Copacabana und Ipanema fort. Die Sicherheitskräfte gehen zurück in Stellung.
Unser Tourguide macht sich bemerkbar. Er bittet uns um Aufmerksamkeit. "All right guys, you see, it is very safe here on the beach in Rio."
Wir nicken artig.
Isabelle aus Brasilia gab mir den Tipp nach Arraial d´Ajuda zu fahren. "It´s a wonderful, small place with a lot of shops, restaurants, bars and beautiful beaches. Many Brasilians go there in the summer."
So ist es tatsächlich. Der kleine Küstenort liegt im Bundesstaat Bahia, südlich von Porto Seguro. Rund 12.000 lebensfrohe Menschen wohnen hier. Das ehemalige Fischerdorf profitiert in der Hauptsaison (Dezember bis Februar) vor allem vom Tourismus.
Schon bei meiner Ankunft um Mitternacht erweist sich meine Hostel-Wahl, wiedereinmal, als Volltreffer. Es liegt mitten im Zentrum, in der "Estrada do Mucuge". Boutiquen, Shops, kleine Supermärkte, Pousadas (Privatunterkünfte) und jede Menge Lokale gibt es hier. Tagsüber fahren Autos den kleinen Hügel hinunter zum Strand. Ganztags flanieren Touristen durch die enge, gepflasterte Einbahnstraße. Wenn es gegen 19 Uhr zu dämmern beginnt, wird die Straße zur Fußgängerzone. Rund um den angrenzenden Hauptplatz werden täglich von neuem kleine Verkaufsstände aufgebaut. Angeboten werden unzählige handgefertigte Souvenirs, Schmuck, Bekleidung, Cocktails, Säfte, Fleischspieße, Kebab, Acaraje, Hot dogs, Tapioca und süße Crepes. Alle Snacks & Drinks werden frisch zubereitet. In der charmantesten Straße Bahias, so steht es auf einem Schild, passiert alles.
Trotz meiner späten Ankunft, um 2 Uhr Früh, herrscht in der Fußgängerzone Vollbetrieb. In den Restaurants, Bars und in der Open Air-Lobby des Mox-Hostels sitzen fast ausschließlich brasilianische Touristen, schlürfen Caipirinhas, süffeln lokales Bier - Brahama, Skol, Antarctica. Aus allen Bars und Restaurants dröhnt Musik - live oder von einem DJ. Getanzt wird drinnen und draußen. Nach einem Schlummertrunk in der Gemeinschaftsküche - gleichzeitig Rezeption und Open Air-Partyzone, verabschiede ich mich in meine 6er "male dorm" - Stockbett, obere Etage. Boa noite.
Beim inkludierten Frühstücksbuffet mache ich Bekanntschaft mit einigen Backpackern. Auf meinen Reisen durch Asien, Australien, USA, Kuba, Puerto Rico, Kanada und Europa habe ich nur wenige male in einem "richtigen"Hotel übernachtet. Als alleinreisender Backpacker ist es für mich die beste Variante, mit Gleichgesinnten Kontakt aufzunehmnen, sie kennenzulernen. Im Hostel hol ich mir Tipps, erfahre die wichtigsten "Dos" und "Don´ts". Im Idealfall unternimmt man gemeinsam etwas.
Ich schließe mich einer 4-er-Gruppe an, wir schmieden unseren Tagesplan: Strandparty. Mit Javier (Chilene), Sharon (Australierin), Julia (Argentinierin) und Amanda (Brasilianerini) starte ich nach dem Frühstück an den schneeweißen Strand - Praia Mucuge. Die Lufttemperatur von 36 Grad im Schatten wird durch den Wind erträglich. In der vormittäglichen, prallen Sonne und nach einigen Caipirinhas wirkt das Bad im atlantischen Ozean wahre Wunder. Dazwischen schnappen wir uns einen Becher tiefgekühltes Acai. Acai steht seit Beginn meiner Reise täglich am Speiseplan. Eisgekühlt, lilafarben, ähnlich einem Sorbet. Die erfrischende Creme wird mit unterschiedlichen Toppings serviert: Bananenstücke, Mango, Schokolade, Granola,... fantastisch! Preis je nach Größe des Bechers zwischen 8 und 18 Reais (300ml-600ml).
Außergewöhnlich sind die "walking kitchens" am Strand, die trotz tropischer Höchsttemperaturen, heiße Snacks anbieten. Auf Kohlen gebratene Käsesticks, frischgekochter, gesalzener Mais, gegrillte, ausgekühlte Shrimps, sogar gekochte Hummer im Ganzen, mit Limetttensaft. Oder: Sabores tradicionais, frittierte Teigtaschen mit unterschiedlichen Fleischfüllungen. Und natürlich, das gibt es an jeder Ecke: kalter Kokosnuss-Saft, der mit einem Strohhalm direkt aus der Frucht getrunken wird. Die gekühlten, grünen Kokosnüsse werden dafür entweder mit einer messerscharfen Machete oder einem Spezialbohrer gelöchert. Alle Snacks am Strand bewegen sich zwischen 3 und 9 Reais. Alles probiert. Köstlichst!
Der Strand ist sensationell. Abwechselnd gespickt mit Bars, Restaurants und schönen Pousadas (kleine Privatpensionen). Hotelanlagen oder Hochhäuser, wie an der Copacabana in Rio, gibt es hier überhaupt nicht. Nach ein paar Stunden am Praia Mucuge wandern wir südwärts Richtung Trancoso. Das Naturschauspiel ist überwältigend. Links von uns das türkisblaue Meer, anschließend weißer Sand, rechts von uns rot-grün-lila-weiß-orange-farbene Schluchten. Während das Meer konstant dahinrauscht, hört man in den Canyos nur noch das Vogelgezwitscher. Die Felswände sind 30, 40 Meter hoch. Sie fallen steil vor dem weißen Strand ab. Gewaltige Felsformationen geformt vom Regen und Wind. Ganz oben, auf dem Plateau steht ein dichter Wald in Grüntönen, die es nur auf diesem Planeten geben kann.
"Man, this is paradise here!", schreit Javier. Wir jubeln zustimmend, stürzen uns wieder ins türkisblaue Meer. Genau hier, in Porto Seguro, haben um 1500 die Portugiesen erstmals angelegt. Angeblich meinten sie beim Anblick der 1200 Kilometer langen Küste: "We have found paradise."
Forró [FO:HO] ist laut Auskunft meines "Zimmerkollegen" Javier einer beliebtesten Tänze Brasiliens. Zu der Musik, die ursrpünglich aus dem Nordosten stammt wird besonders eng und besonders heiß getanzt. Im Bundesstaat Bahia stehen Forró-Parties auf der Tagesordnung. Obwohl man bei den Hüftschwüngen mit seiner Tanzpartnerin beinahe verschmilzt ist es strengstens tabu, sich dabei "unsittlich" anzunähern. Containance, por favor!
"You have to remember one very important thing, my friend. Only if the woman allows you to come closer, you may do that. Then you can ask, if you may kiss her."
Die moralischen Spielregeln zum brasilianischen Anbandeln klingen unkompliziert. Javiers Schlussfolgerung, sofern man sich an seine Vorgangsweise hält, ist noch viel einfacher. "And, my friend, finally, if you may kiss her, she will probably take you home", erklärt er grinsend mit erhobenem Daumen. "OK, let´s go now."
Wir machen uns zu Fuß auf den Weg - unser Ziel ist eine private "FOHO-Party" ein paar Straßen außerhalb des Zentrums. Bevor wir aufbrechen, shoppen wir einen kleinen Aperitivo für unterwegs - eine Flasche Vodka, Ananassaft, sechs Dosenbiere zum Neutralisieren der Spirituose.
"Man, you can kill an elephant with this drink", freut sich mein chilenischer Companheiro. Das Ananas-Vodka-Gemisch, das er sich selbst eingeschenkt hat, ist viel zu stark. Trotzdem setzt er den Becher an, leert ihn zur Hälfte. Grinsend hält er mir das Plastikgefäß vors Gesicht.
"Javier, we have to take it easy. Slow down, ´tranquilo´ - otherwise we will get wasted too fast."
"So what, it doesn´t matter. We are on vacation. Come on man, let´s have some fun."
Widerstand sinnlos. Ich ergebe mich und trinke die andere Hälfte des Elefantenkillers. In meinem Alter weiß ich genau, was ich vertrage. Und was ich nicht vertrage. Eine derartige Vodkamischung, noch dazu in diesem Tempo getrunken, gehört in die zweite Kategorie. Javier ist 25 Jahre jung, er lässt sich von meinen Bremsversuchen nicht beeindrucken, schon gar nicht aufhalten. Er kippt, kippt, kippt. Teilt, teilt, teilt. Wir trinken, viel zu schnell.
Obwohl die Party nur wenige Blocks vom Zentrum entfernt ist, brauchen wir über eine Stunde, bis wir dort ankommen. Die Flasche Vodka leeren wir glücklicherweise mit drei brasilianischen Mädels, die uns über den Weg laufen und ebenfalls zur Party gehen. Mehrmals sitzen wir auf Stufen, vor irgendwelchen Hauseingängen. Irgendwann zaubert eines der Mädels einen Joint aus der Handtasche. "You like to smoke?", fragt sie mich in gebrochenem englisch. Ich kann die Frage glaubwürdig verneinen. Als wir um die letzte Ecke zum Zielort einbiegen, haben wir die sechs Biere ausgetrunken.
"Javier, meu amigo!", ruft Thiago, der Gastgeber und übertönt lauthals die Live-Musik, die auf der Terrasse spielt. Er umarmt die Mädels, Javier und mich. Die Party ist bereits in vollem Gange. Ein Sänger, ein Trommler, eine Gitarristin, ein Akkordeonist und ein Percussionist geben alles. Der Bär ist los!
Auf dem Grundstück des kleinen, einfachen Hauses feiern zirka 60 gut aussende Partymenschen. Großteils in T-Shirts, Shorts, Bikinis - einige Jungs mit nacktem Oberkörper. In Kleingruppen stehen sie zusammen, unterhalten sich, schlürfen Drinks, essen im Stehen.
An einer kleinen Holzbar rührt eine knackige Brasilianerin laufend neue Cocktails an. Daneben stehen drei große Styroporkisten, prall gefüllt mit Eiswürfeln. Darin schwimmen Wein und Bier. Auf der Straße, vor dem Eingangstor steht ein Griller, auf dem Thiago Allerlei bruzelt. Getanzt wird überall.
"Man, we need to find some girls. Foho, my friend, foho!", wiederholt sich Javier mehrmals.
Unter Alkoholeinfluss gibt es nichts, was ich nicht kann. Ich habe in meinem ganzen Leben insgesamt drei Tanzstunden besucht. Damals, mit 18 Jahren wurde ich mit den Worten "Herr Schmied, Sie brauchen nächstes mal nicht mehr kommen", nach Hause geschickt. Warum? Das weiß ich bis heute nicht. Seither verlasse ich mich einzig und allein auf mein Bauchgefühl. Ich tanze so, wie ich will. Alleine. Oder auch zu zweit. Egal.
Nach zwei Caipirinhas bin ich so weit. Ich möchte endlich den berühmt-berüchtigten "FOHO" tanzen!
"Oi! Eu sou Maria", streckt mir eine kleinwüchsige Brasilianerin ihre Hand zur Begrüßung entgegen. Sie ist hübsch, sexy, hat große, braune Augen. Schulterlange, lockige, schwarze Haare.
"Oi! Meu nome e Rudolfo. Do you speak english?" Mein portugiesisch ist mehr, als beschränkt.
"Nao." Das ist eines der Wörter, das ich gerade noch verstehe. Es bedeutet: "Nein."
Damit haben wir uns in dieser Nacht schon fast alles gesagt. In meinem Zustand ist es ohnehin besser, wenn ich nicht zu viel rede. Vom Alkohol angetrieben mache ich ihr deutlich, dass ich gerne mit ihr tanzen möchte. Die magische Zauberformel, die ich ihr ins Ohr flüstere, lautet: "FOHO, por favor?!?" Sie riecht verführerisch. Wenn das kein gutes Zeichen ist?
Der erste Schritt über das unregelmäßige Kopfsteinpflaster vor dem Haus, wird zur Bewährungsprobe. Jetzt nur nicht stürzen!
Ich lege meine Hand vorsichtig auf den oberen Rückenbereich meiner Tanzpartnerin. Ihr kurzes Trägershirt hört genau dort auf, wo meine Hand jetzt liegt. Ich spüre ihre Haut. Sie legt ihre rechte Hand in meine. Maria schaut mir in die Augen, lächelt und macht einen Schritt in mich hinein. Sie drückt ihren Oberschenkel zwischen meine Beine. Ich halte die Luft an. Hoppa! Alles was sich jetzt unterhalb unserer Hüften abspielt ist gefühlsecht. Wie wird das jetzt weitergehen?
Maria tritt einen Schritt zurück, packt meine beiden Hände und legt sie seitlich auf ihre Hüftknochen. Dann stellt sie ihren Oberschenkel wieder in mich hinein, drückt ihn noch ein Stück tiefer, als zuvor und umfasst meine Hüfte an beiden Seiten. Und schon geht es los. Der Trommelwirbel gibt das Tempo vor. Wir schieben, drehen, drücken, ziehen uns gegenseitig. Zwischen unseren Körpern brennt die Luft Ich bin hin und weg. Wir sind die Reinkarnation aus Michael Jackson, Whitney Houston und Elvis Presley. Mit jeder Minute werden unsere Oberschenkel heißer, unsere Shorts und Shirts feuchter.
Aus dem Augenwinkel kann ich Javier erkennen. Er steht neben einem Mädel, hält den Daumen begeistert in meine Richtung. Von seinen Lippen kann ich deutlich ablesen: "Foho, man, Foho!"
Völlig betäubt und beinahe high von den pausenlosen Hüftschwüngen verlangsame ich das Tempo etwas. Maria hebt den Kopf von meiner Schulter, meine Lippen streifen dabei unabsichtlich über ihren Hals. Ihr Schweiß schmeckt nach Salz und Parfum. Dann ist er da, der magische Moment. Ich sammle meine Gedanken, reiß mich komplett zusammen. Wir schauen uns in die Augen. Ich nehme allen Mut zusammen, um ihr die wichtigste Frage des Abends zu stellen.
Plötzlich küsst sie mich. Zärtlich. Sehnsüchtig. Endlos.